Der Philosoph René Descartes hat dem berühmten Ausspruch getätigt »Cogito ergo sum«, was nichts anderes bedeutet als »Ich denke, also bin ich«. Als Autorin zweifle ich nicht an meinem schreibenden Ich, dafür aber an den unzähligen Ichs, die ich Tag für Tag neu erfinde. Die Rede ist von meinen Romanfiguren. Ich schreibe, also sind sie. Tatsächlich?

Alle meine Figuren haben eine unterschiedliche Biographie, unterschiedliche Ängste, Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen – und allen voran eine unterschiedliche Wahrnehmung der Welt. Würden sie alle in diesen Punkten übereinstimmen, wären sie nicht viel mehr als Abziehbildchen. Wenn ich meine Figuren entwickle, dann habe ich immer vor Augen, wer sie einmal waren, wer sie jetzt sind, wer sie einmal sein wollen und wer sie nie (mehr) sein wollen.

Merkt ihr, wie oft sich das Wörtchen »sein« wiederholt? Um nichts anderes geht es hier, darum wer meine Figuren sind. Anders verhält es sich aber mit der Wahrnehmung meiner Figuren. Nur weil sie die Welt so wahrnehmen, wie sie sie aus ihrer Warte eben wahrnehmen, heißt das noch lange nicht, dass die Welt auch so ist. Meine Figuren denken nur, dass die Welt, so wie sie sie wahrnehmen, auch tatsächlich ist.

Meine Aufgabe als Autorin ist, diesen Unterschied von Wahrnehmung und Realität darzustellen und nicht in Stein gemeißelte Definitionen von Gut und Böse aufzustellen. Meine Figuren sind nicht perfekt, auch sie haben Fehler, die dafür sorgen, dass sie gewisse Situationen falsch einschätzen und ungünstige Entscheidungen treffen.

Meine Aufgabe als Autorin ist, diesen Unterschied von Wahrnehmung und Realität darzustellen und nicht in Stein gemeißelte Definitionen von Gut und Böse aufzustellen.

Worin liegt der Unterschied, zu behaupten, etwas entspräche der Wahrheit, und nur zu vermuten, etwas entspräche der Wahrheit? Bei Letzterem gestehe ich ein, dass das meine Sicht der Dinge ist und akzeptiere, dass andere Personen anderer Meinung sein könnten. Wenn ich aber die Behauptung aufstelle, zu wissen, wie etwas sei, erhebe ich automatisch Anspruch auf die Wahrheit, die ich nie in all ihren Facetten kennen kann.

Zu philosophisch? Als Autorin weiß ich genau, was in den Köpfen meiner Figuren vorgeht, als Mensch, der auf der Straße anderen Menschen begegnet, nicht. Wenn mir eine Person entgegenkommt, mich anrempelt und sich nicht entschuldigt, bin ich im ersten Moment sauer und denke mir, »hallo, geht’s noch?!«. Was ich nicht weiß, ist, dass diese Person vielleicht einen schlechten Tag hatte und der Zusammenstoß mit mir war das letzte von vielen Ärgernissen, für das die Person keine Nerven mehr hatte, um sich zu entschuldigen. Oder sie war wegen eines Notfalls in Eile und hat gar nicht gemerkt, dass sie mich angerempelt hat. Ihre Reaktion könnte viele Gründe haben, doch ich in meinem Tunnelblick sehe ich nur, dass mir Unrecht getan wurde, und stemple die Person als »böse« ab.

Neben dem Schreibhandwerk ist Empathie eines der wertvollsten Werkzeuge für Autor*innen. Die Fähigkeit, sich in alle – und ich meine, in wirklich alle – Figuren hineinversetzen zu können, verleiht der Geschichte Tiefgang und Vielschichtigkeit. Ich muss nicht immer einer Meinung mit meinen Figuren sein (ich muss sie nicht mal noch immer auf jeder einzelnen Seite mögen), doch ich muss verstehen können, wieso sie sich so verhalten, wie sie sich verhalten, und wieso sie denken, dass das, was sie gerade tun, zu ihrem Besten ist oder aber auch, wieso sie einfach nicht aus ihrer Haut herauskönnen. Und im besten Fall muss ich das auch den Leser*innen vermitteln können, wieso meine Figuren so sind, wie sie sind.

Den ersten Entwurf (den nur ein paar Augen zu sehen bekommen haben und heute unter Verschluss steht) der Serie Perfaectas Prophezeiung habe ich zu schreiben begonnen, als ich noch selbst ein Teenager war, da überrascht es nicht, dass Amanda und ihre Freund*innen selbst Teenager sind. Würde ich heute die Geschichte bei null anfangen, würde ich vieles anders machen, weil ich aus den typischen Teenager-Problemen mittlerweile herausgewachsen bin. Aber dann wäre die Geschichte auch eine andere, die ich erzählen möchte. Das Dilemma einer Geschichte, die sich über Jahre entwickelt, ist die Gratwanderung zwischen »Was wollte ich damals sagen?« und »Wie kann ich es heute sagen, ohne mich von der ursprünglichen Geschichte abzuwenden, aber noch immer hinter dieser Geschichte zu stehen, obwohl ich mich inzwischen weiterentwickelt habe?«.

Eigentlich ist es ganz leicht. Perfaectas Prophezeiung beginnt mit der sechzehnjährigen Amanda, die unter ihren strengen Mutter leidet, sich zum ersten Mal verliebt und mit ihrer besten Freundin immer wieder aneckt – und das alles, wenn ihr eröffnet wird, dass sie einen jahrtausendealten Krieg beenden soll! Alles, was ich (als Autorin) tun muss, ist mich zu fragen, wie würde ein sechzehnjähriges Mädchen in dieser Situation reagieren? Amandas Realität ist nicht meine Realität, genauso wenig wie sie die Realität eines Engels wie Ellias oder von Cecilia ist, die ganz konkrete Pläne für Perfaecta hat.

Ich schreibe und entwerfe damit lauter Möglichkeiten, wie meine Figuren und die Welt, in der sie sich bewegen, sein könnten. Ich stelle keine Behauptungen auf, wie etwas ist, sondern beschreibe, wie Amanda und ihre Freund*innen ihre Welt wahrnehmen und wie sie darauf reagieren. Das mag ein kleiner, aber feiner Unterschied sein in einer Welt, die sich nicht kategorisch in Gut und Böse oder in Richtig und in Falsch einordnen lässt.

Im Zeichen des Feuers, der erste Band der YA Urban Fantasy Serie Perfaectas Prophezeiung ist ab sofort erhältlich als eBook bei https://amzn.to/3uHCpHR.

Cover von Perfaectas Prophezeiung: Im Zeichen des Feuers, Gesicht, rote Augen im Feuer

Ich schreibe, also sind die anderen?